1.  Endlich

2.  Es ist so weit

3.  Eile

4.  12 Avocados

5.  Bis gleich

6.  Küssen oder nicht Küssen, das war hier die Frage

7.  Seid nett zu ALDI-Verkäuferinnen!

8.  Urne ausgraben? So etwas tut man nicht.

9.  Freude bereiten

10. Kann meine Mutter zweimal sterben?

11. Fin

12. Stolz

13. Stolz?

14. Vornehm geht die Welt zugrunde

15. Wie peinlich!

16. Na endlich!

17. Aufnahmeprüfung

18. Freundschaft am Strand

19. Und nun ist es tatsächlich geschehen

20. Ein neuer Freund

 

 

1.                                    Endlich!

 

    Der Frühling wollte nicht kommen. Es hatte seit Wochen geregnet und gestürmt.  Endlich schien die Sonne, und es war der erste warme Tag des Jahres.

     Auf einem Spaziergang an der Steglitzer Bäkewiese sehen wir von weitem, wie ein älteres Pärchen eine Liegedecke auf dem schmalen Rasenstreifen neben dem Weg ausbreitet.  Als wir neben ihnen angelangt sind, hatten sie sich bereits niedergelassen.  Ich bleibe stehen und sage zu der Frau, die mich ansieht, mit einem Lächeln:  „Endlich!“  Die Frau stutzt einen Augenblick, lacht dann aber und sagt begeistert: „Jaaa! Sie haben völlig recht. - endlich!“

     Das war einer jener Momente, wo man sich mit einem Menschen und der Welt völlig eins fühlt.

 

 

2.                                Es ist so weit

 

     Es ist heute Morgen bei Butter-Lindner geschehen. Ich habe Krustenbrot gekauft, und als ich das Wechselgeld in mein Portemonnaie stecken wollte, fielen mir die vielen kleinen Münzen aus der Hand und auf den gekachelten Boden. Ich bückte mich sogleich, um die Geldstücke aufzusammeln, jedoch ein − ich muss nun schon sagen: „junger“ − Mann von etwa 40 Jahren war schneller und sammelte die Münzen für mich auf.  Ich bekam nur noch die großen Zwei-Euro-Münzen zu fassen. Nachdem ich den Schreck überwunden hatte, bedankte ich mich artig, und der junge Mann antwortete: „Keine Ursache, gern geschehen.“

     Also: Nun ist es so weit.  Ein schon 40-Jähriger betrachtet mich als relativ hilflosen, alten Mann.  Das war das erste Mal, dass mir mein Alter so richtig ins Bewusstsein gebracht wurde.  Und ich muss mich damit abfinden, dass es auch nicht das letzte Mal sein wird. Ganz im Gegenteil:  ich muss jetzt damit fertig werden und so gut es geht weiterleben.

    Nun warte ich eigentlich nur noch darauf, dass demnächst ein 40-Jähriger im Bus für mich aufsteht.

 

 

3.                                   Eile

 
     Auf dem Gehweg vor unserem Haus kommt mir ein älterer, weißhaariger Herr rennend entgegen. Er läuft offenbar so schnell, weil er es sehr eilig hat. Ich sehe ihn an und sage: „Toll!“. Als er gerade an mir vorbei war, höre ich: „Ja, was?“

 

 

4.                                                                  12 Avocados

 

    Die Treppe von der S-Bahnstation Zehlendorf herunterkommend blicken wir auf einen großen Obststand, der von zwei jungen Männern lautstark beworben wird. “Fünf Avocados zu einem Euro!“ Ich sage zu meiner Frau Uschi: „Die sollten wir kaufen. Nimm doch gleich 10!“ Als Uschi an die Avocado-Kiste herantritt, eilt einer der Verkäufer herbei und will ihr eine Tüte reichen. Uschi ist jedoch schneller, sie reißt sich eine Tüte neben der Kiste ab und packt sich die Avocados in die Tüte. Hinter mir lehnt rauchend der zweite Verkäufer an der Wand und schaut Uschi zu. Ich spreche ihn an: „Passen Sie bloß auf! Meine Frau mogelt gern!“. Er lacht. Beide Männer sehen meiner Frau zu. „Sie sollten die Tüte lieber kontrollieren!“ sage ich. Da tritt der erste Mann auf meine Frau zu, nimmt 2 Avocados aus der Kiste und packt sie in die noch offene Tüte meiner Frau. Wir vier lachen herzlich, und verabschieden uns mit einer freundlichen Handbewegung. Die heitere Stimmung hielt uns noch lange gefangen.

 

5.                                    Bis gleich

 

     Ich kaufe bei LIDL ein. Als ich den Laden verlassen habe, fällt mir ein, dass ich nicht an den Wein für meine Frau gedacht habe. Ich stelle also den Einkaufskorb vor dem Laden ab, gehe wieder hinein und nehme mir den vergessenen Wein. Als ich an der gleichen Kasse wie zuvor bezahlt habe und die Kasse verlasse, sagt die Verkäuferin: „Bis gleich!“.

 

 

6.                         Küssen oder nicht küssen, das war hier die Frage

 

    Meine Frau und ich besuchten am letzten warmen Sonnabend des Jahres die Potsdamer Villa Schöningen, um dort im Garten Kaffee zu trinken und uns die Kunstausstellung im Freien anzusehen.  Nach dem Laben an Kaffe und dem mäßig guten Kuchen wanderten wir zwischen den Kunstobjekten einher.  Ich ging voran und kam an einem Apfelbaum vorbei, unten dem, am Stamm angelehnt, eine junge, dunkelhaarige, hübsche Frau stand.  Sie hielt einen angebissenen Apfel in Hand, lachte mich keck an und sang auffordernd mir zu: „Don’t kiss under the apple tree anyone else but me, anyone else but, anyone else but me!“  1)

     Was sollte ich nun tun? Mein erster, spontaner Endschluss war, auf sie zuzugehen und sie zu küssen, aber dann entsann ich mich meiner Frau, wenige Meter hinter mir, mein Herz zuckte ein wenig schmerzhaft zusammen, und ich beließ es dabei, die bekannte Melodie mitzusingen: „Don’t kiss under the Apple tree anyone else but me, anyone else but, anyone else but me!“   Wir lachten uns beide an, und ich ging weiter.  Das war’s.

     Also ich schwöre: ich hätte die Frau unter normalen Umständen, soll heißen: ohne die anwesende Ehefrau geküsst.  Und wer weiß, was daraus erwachsen wäre.

 1) “Der genauere Text dieses Liedes lautet: “Don't Sit Under the Apple Tree with Anyone Else but Me (anyone else but me, anyone else but me! …)” und wurde bereits von den Andrew-Sisters mit dem Glenn-Miller-Ochester im 2. Weltkrieg gesungen.

 

 

7.                          Seid nett zu ALDI-Verkäuferinnen!

 

     Die mich bedienende ALDI-Verkäuferin schreit plötzlich: „Auaaah“.  Ich starre sie entsetzt an, sie sieht auf ihre erhobene linke Hand. Ich blicke ihre Hand an. Über den Ring- und den Mittelfinger ziehen sich zwei hauchdünne Risse hin, aus denen Bluttropfen quellen. „Was ist geschehen?“ frage ich. „Ich habe mich an Ihren Bouletten geschnitten.“ Sie hatte sich an den scharfen Kanten der Plastikverpackung die Finger verletzt.  Ich muss ihr tröstend versprechen, dass ich keine Bouletten mehr kaufen werden, wenn sie an der Kasse sitzt.

 

 

8.                         Urne ausgraben? So etwas tut man nicht

 

 Vor kurzem haben wir in Freiburg der Beisetzung der Urne der Schwester meiner Frau beigewohnt. Meiner Frau, mir und einem engen Freund der Schwester war bekannt, dass Hanne-Lore gerne auf Sylt beigesetzt werden wollte. Ihre Kinder hatten entweder von ihrem Wunsch nichts gewusst oder ihn nicht beachtet. Der Freund hatte Hanne-Lore mehrmals vergeblich ermahnt, ihren Bestattungswunsch schriftlich festzulegen. Nun sprach er zu meiner Frau und mir davon, dass er die Grabstelle sich genau merken wolle, weil er die Möglichkeit erwog, die Urne selbst heimlich auszugraben und nach Sylt zu schaffen. Die Begriffe ‚Sylt’ und ‚Urne ausgegraben’ ließen mich sofort an folgende Geschichte denken.

 Uwe Lödige war mein bester Freund auf Sylt. Wir kannten uns schon als Dreizehnjährige und haben später mehrere Sommer gemeinsam am Strand als Rettungsschwimmer gearbeitet. Uwe war überall bekannt und beliebt, und die Sylter nannten ihn „Uns Uwe“.  Uwe hatte sechs Kinder. Der kleinste Junge hieß Sönke. Er schien nicht besonders clever zu sein, lernte erst spät sprechen, und ich sehe ihn heute noch mit seiner stets laufenden Nase vor mir. Als er einmal zur Mittagszeit nicht nachhause kam, sorgten sich seine Mutter und seine Geschwister beträchtlich. Irgendjemand berichtete dann, man habe unten am Strand ein kleines nacktes heulendes Kind gesehen, das Sönke sein könnte. Als Uwe vom verschwundenen Sönke hörte, winkte er ab und meinte nur: „Wenn der nicht alleine nachhause findet, dann ist er kein richtiger Lödige.“ Und damit war die Sache für ihn erledigt. Am späten Nachmittag brachten Kurgäste dann den Rotz und Schnotz heulenden Sönke vom Kampener Strand nachhause. Was ich also hiermit sagen will ist, dass Sönke nicht der hellste zu sein schien und Uwe vielleicht ein bisschen hart mit ihm umging.

 Jahre später starb Uwe. Als Freund und Kenner der See hatte sich Uwe gewünscht, dass seine Asche ins Meer gestreut werde. Aber eine Seebestattung war für die Hinterbliebenen zu teuer. Und so entschied man sich, Uwes Urne auf dem Wenningstedter Friedhof anonym beisetzen zu lassen. Und so geschah es dann auch.

 Einige Tage später entdeckte eine Friedhofbesucherin, dass auf dem Feld der anonym Beigesetzten ein Loch gegraben worden war. Die Polizei wurde geholt, denn Grabschändung ist ein ernstes Vergehen. Die Untersuchung ergab, dass Uwes Urne ausgegraben und verschwunden war. Man war ratlos. Wer sollte solches tun?

 Nach Tagen eindringlicher Befragungen der Lödige-Kinder gab Sönke schließlich zu, dass er die Urne ausgebuddelt und unter Uwes Boot am Strand versteckt hatte. Sönke wollte die von Uwe gewünschte Seebestattung durchführen, konnte aber wegen des hohen Seegangs mit dem Boot nicht hinausfahren. − Man verzieh Sönke großzügig, denn es war die Liebe zu seinem Vater, die Sönke so frevlerisch hatte handeln lassen. Man bestattete Uwe ein zweites Mal, aber diesmal wirklich anonym und auf dem Keitum Friedhof. Und dort liegt Uwe heute noch − soweit ich weiß.

 

                                        9. Freude bereiten

 

   Wir liegen am Wustrower Strand. Die Sonne scheint warm vom leicht bewölkten Himmel. Die See rauscht leise. Wir sehen ein älteres Ehepaar an der Wasserkante entlang laufen. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, er lange braune Hosen und eine weiße Jacke dazu. Irgendwie passt ihre Kleidung nicht an den Strand, nicht zum schönen Wetter und nicht nach Wustrow. Sie blickt ständig suchend mit stark gebeugtem Rücken nach unten. Wir hören das Wort „Bernstein“ und wundern uns. In dieser Jahreszeit, bei den vielen Badenden hier Bernstein zu finden, scheint uns absurd, weil im Sommer so gut wie kein Bernstein hier mehr liegt.

      Als ich wieder einmal zur See blicke, sehe ich das Ehepaar von Ferne zurückkommen. Da habe ich eine Idee:  Wir waren tags zuvor im Ribnitzer Bernsteinmuseum gewesen und hatten mit der Eintrittskarte jeder ein kleines Plastiktütchen mit Bernsteinen geschenkt bekommen. Und hatte ich nicht mein Tütchen noch in meiner Gesäßtasche? Könnte ich nicht diese paar kleinen Bernsteine einfach in ihren Weg in den Sand streuen und der Suchenden eine Freude bereiten?

     Ich nahm mir also meine lange Hose und suchte mir das Tütchen heraus.  Ich riss es auf und ging lässig, unauffällig an die Flutkante und verstreute ganz beiläufig die etwa 25 kleinen Bernsteine auf einer Länge von 30 Metern in den feuchten Sand. Von unserem Liegeplatz aus beobachteten wir nun das näher kommende Ehepaar.

     Und tatsächlich: Sie fand einen Bernstein, juchzte vor Freude, fand dann noch einen und noch einen...  Nun schien sie glücklich zu sein:  Sie hatte tatsächlich Bernstein am Wustrower Strand gefunden.

     Als ich später den Strandsabschnitt, an dem ich die Steine verstreut hatte, absuchte, war kein einziger mehr zu finden. So gründlich hatte die schwarze Dame gearbeitet.

 

 10. Kann meine Mutter zweimal sterben?

 

Ich weiß, solch eine Frage zu stellen, hört sich nicht einmal interessant an, denn sie ist irreal. Dennoch habe ich fast jeden Tag den Eindruck, meine tote Mutter stirbt wieder ein bisschen mehr.

 Ich will das erklären. Meine Mutter war eine waschechte Berlinerin.  Sie zog bald nach dem Kriege aus Liebe zu ihrem dritten Mann nach Hamburg. Sie fühlte sich dort jedoch nie so recht heimisch. Selbst nach 30 Jahren Hamburg träumte sie noch immer von ihrem Berlin. Sie hatte als geschiedene Frau die Kriegsjahre und die ersten Nachkriegsjahre mehr genossen als durchlitten und hatte dabei viel durchlebt und erlebt.  

 1979 zog meine Mutter mit ihrem Mann endlich zurück in ihr Berlin. Nun wieder in Berlin versuchte sie, ihr altes Berlin wieder zu entdecken und zu genießen, was dazu führte, dass sie auch all ihre mehr oder minder bekannten Cafés besuchte. Wohl aus einem Anflug von Nostalgie nahm sie von jedem Café ein Stück Würfelzucker mit, das auf seiner Verpackung den Namen des besuchten Cafés trug. Und sie sammelte diese bunten Zuckerstücke.

 Als meine Mutter dann 1981 starb, hinterließ sie einen großen Glastopf bis zum Rand gefüllt mit farbigen Würfelzuckerstücken. Dieser Glastopf stand etwa 30 Jahre lang aus Pietät und nicht zuletzt als eine Art Dekoration auf unserem Küchenschrank. Als wir vor etwa einem Jahr uns eine Espresso-Maschine kauften − die von dem Clooney −, bot es sich an, den Espresso mit einer wohldosierten Zuckermenge zu süßen. Was lag näher, als die auf dem Schrank langsam verstaubenden Zuckerstücke dazu zu verwenden? Jetzt erst besahen wir uns die Zuckerstücke näher. Der überwiegende Teil stammte aus bekannten Berliner Häusern. Dabei fiel uns auf, dass viele der Berliner Cafés oder Kaufhäuser, in denen sie gesessen hatte, inzwischen nicht mehr da waren: Aschinger († 1976), Prälat Schöneberg († 1987), Café des Westens († 1998), Cafè Wien und Möhring auf dem Kurfürstendamm, Kranzler (ebenerdig) († 2000) und die Kaufhäuser Quelle, Horten, Bilka etwa.

   Und während ich nun täglich einmal oder auch öfter einen Zuckerwürfel aus dem Glastopf klaube, die Umhüllung bedächtig löse und den Würfel in den Kaffeeschaum fallen lassen, kommt jedes Mal in mir das Gefühl hoch, ich lasse mit dem Zuckerstück ein Stück meiner Mutter noch einmal sterben.  Mit den sich auflösenden Zuckerstücken verschwinden auch nochmals die bekannten Cafés. Die Menge an Zuckerstücken stetig nimmt ab, und damit sehe ich auch meine Mutter allmählich irgendwie kleiner werden, eben nochmals sterben − ganz langsam. 

 

 

11.                                         Fin

 

  Als ich meinen nahen Garagenhof betrete, sehe ich vor meiner Garagentür eine tote Katze liegen. Schwarzweiß gemustert genau wie Fin, schwarzer Rücken, weiße Brust und Füße.

     Fin oder Finni, wie ihre Herrin Frau Barbara sie nennt, wohnt an der Ecke unserem Haus gegenüber. Fin ist bei allen, die hier in der Nähe wohnen, bekannt, weil Fin oft unsere gut befahrenen Straßen in solcher unendlichen Ruhe und Langsamkeit überquert, dass man jedes Mal um sie bangt. Sie blickt beim Überqueren weder rechts noch links, sie geht einfach los. Und es geht immer gut. Fin stromert auch viel in unseren Gärten herum und kommt manchmal tagelang nicht nach Hause.

     Wie ich Finni da so leblos auf der Seite liegen sehe, bin ich tieftraurig. Sie scheint unverletzt, einfach nur tot. Voller Pietät hole ich ein kleines Tuch aus der Garage und decke Finni halbwegs zu, nur die Beinchen gucken noch heraus. Dann nehme ich Finni hoch und trage sie bedeckt mit dem Tuch zu ihrem Frauchen. Als sie ihre Haustür öffnet und mich mit der toten Finni sieht, bricht sie in Tränen aus, und wir umarmen uns leidvoll. Es ist das erste Mal, dass die mir bekannte junge, hübsche Unternehmerin mir so nahe tritt und mich gar umarmt. Aber ihr Leid scheint grenzenlos. Schließlich nimmt sie Finni pietätvoll entgegen und schluchzt, sie wolle sie im Vorgarten ihres Hauses beerdigen.

     Ein paar Tage später klingelt Frau Barbara an unserer Tür. Sie berichtet mit feuchten Augen, Finni sei wieder da. Die für sie glückliche Fügung war, dass sie Finni nicht vom Tuch entblößt hatte, weil sie ja an den weißen Beinchen deutlich erkannte, dass es Finni ist. Somit hatte sie statt Finni eine fremde Katze begraben. Wie gut für Frau Barbara, wie traurig für die Herrin der im Vorgarten von Frau Barbara liegende Katze, deren Herkunft sich nie klären ließ.

 

 

Dies ist die immer noch streunende Finni, fünf Jahre später

 

 

12.                                                                     Stolz

 

       Im Mai 1964 konnte ich durch meinen Studienfreund Uwe bei dem Film „Fanny Hill“ der CCC-Filmkunst als studentische Hilfskraft mitwirken. Wir hatten bei den Dreharbeiten, mit einer Armbinde „Ordner“ versehen, im Tiergarten etwa nach dem Ruf des Produzenten Albert Zugsmith „Clear the background“ die ahnungslosen Spaziergänger aus dem Filmhintergrund zu verscheuchen oder mussten Drehbücher mit dem Ormig-Kopierer vervielfältigen. Die Arbeit machte insofern viel Spaß, da in dem Film eine Vielzahl hübscher Mädchen und bekannte Schauspieler wie Walter Giller, Chris Howland und Ulli Lommel mitwirkten, und schließlich wurde hier ein erotischer Roman verfilmt. Hinzu kam, dass viel in den Spandauer CCC-Studios gearbeitet wurde, wo auch andere Filme etwa mit Lex Barker gedreht wurden. Ein asiatisch aussehendes 20jähriges Mädchen gefiel uns besonders gut, und wir rückten ihr näher, wurden aber gewarnt, weil dieses Mädchen, im Film Lotus-Blüte genannt, eine gewisse Susanne Hsiao, die Freundin von Harald Juhnke sei, und wir großen Ärger bekommen könnten.

     Aber da war auch noch eine viel umschwärmte Cara Garnett von den Fidschi-Inseln, die mir besonders gefiel. Ich konnte sie für mich gewinnen, und sie zog vom Hotel Thober am Kurfürstendamm für die restlichen Drehtage zu mir in die Uhlandstraße. Der Produzent Zugsmith hatte Cara durch die Rolle der Phoebe für sich gewinnen wollen, und sie konnte sich kaum seiner Zudringlichkeiten erwehren. Als Cara ihn eines Abends von meiner Wohnung aus anrief, um ihm für diesen Abend abzusagen, fragte er sie, ob sie mit Lex oder Peter ausginge. Das war’s, was ich erzählen wollte: Mr. Zugsmith stellt mich mit Lex Barker auf eine Stufe. Was war ich stolz!

 

 

13.                                                                   Stolz?

 

     Nach dem Schreiben der vorigen Kurzgeschichte, die 1964 handelte, habe ich mich kürzlich im Internet über den Hollywood-Fotografen Bruno Bernard (Bernard of Hollywood) etwas informiert, weil Cara Garnett öfter von ihm fotografiert worden war, und sie mir einige dieser Bilder gezeigt hatte, und ich noch weitere bei ihm entdecken wollte. Dabei fand ich in dem Buch von Reiner Boller mit dem Titel „WILDER WESTEN MADE IN GERMANY“ folgende Geschichte.

 

     In Dubrovnik, wo Artur Brauner den Karl-May-Film ‚Old Shatterhand’ mit Lex Barker, Piere Brice und dem uruguayschen Schauspielern Gustavo Rojo drehte,  spielten Lex Barker und Gustavo Rojo gerne Karten. Rojo erzählt, dass Lex immer gewann und von ihm verlangte, dass er ihm jeden Penny bezahlte, den er gewann. Rojo berichtet, dass er sich revanchierte, denn „Lex hatte eine kleine Freundin am Set – mit mir zusammen, was er aber nicht wusste. – Eine kleine Engländerin, die auf den Fidschiinseln geboren wurde. Sie war eine zeitlang mit mir zusammen. Ein hübsches kleines Ding. Ich nannte sie ‚Fidschi’, darum weiß ich das noch so genau. Sie stahl sich nachts von ihm weg und kam zu mir, das war der Witz daran. Lex wusste natürlich nichts davon. Wir hatten also nicht nur die Spielleidenschaft zusammen.“

 

    Reiner Boller schreibt weiter: Wer ist aber diese Frau wirklich? Des Rätsels Lösung liefert der berühmte Fotograf Bruno Bernard, der sich Brauner für den Karl-May-Film anbietet. Am 24. August 1963 schreibt er an Artur Brauer:

 

   „… Last but not least habe ich an der Riviera eine sensationelle Neuentdeckung gemacht: Ein junges bildschönes und hochbegabtes Mädchen von den Fidschiinseln. Die bereits in ihrem Heimatland und auch in Hongkong und Beirut in Film und Fernsehen mit großem Erfolg gespielt hat, aber in der westlichen Welt noch völlig unbekannt ist. Dieses Mädchen sieht wie eine junge Elisabeth Taylor aus, nur ist sie viel schlanker und hat eine bedeutend bessere Figur als die berühmte Elisabeth. … Sie hat eine solche täuschende Ähnlichkeit mit der Taylor. … Als ich Cara Garnett, so heißt die junge Schauspielerin, im Edén Rock Hotel in einem Kleopatra-Bikini fotografierte … Obwohl Cara einer angesehenen Familie aus Fidschi entstammt, ist sie keine Eingeborene, sondern halb englischer halb australische Abstammung. Sie spricht ein fabelhaftes und mikrofonisches Englisch … Cara würde sich meines Erachtens für alle exotischen, aber auch alle dramatischen Rollen gut eignen, sie hat den animalischen Sex Appeal einer tropischen Wildkatze. – Auch als Indianerin würde sie überzeugend wirken. Hinzukommt, dass Cara ausgezeichnet reiten kann und auch sonst athletisch veranlagt ist ...“

    „Caras Eltern besitzen ein Sägewerk auf Fidschi, ihr wirklicher Name lautet Ethelwin, und ihr auf Fidschi gedrehter Film hieß ‚Island of Yesterday und Tomorrow’. CCC-Film antwortete Bernard am 4. September 1963, „dass man die Frau einmal ansehen müsste. Vielleicht könnte das schon in Dubrovnik sein.“ Weiter heißt es: „ ... Als Indianerin für ‚Old Shatterhand’ ist sie nicht jung genug. Das Mädchen muss höchstens wie 20 aussehen. Wir haben schon große Schwierigkeiten, Daliah Lavi, die 21 ist, auf ihr ursprüngliches Alter zurückzubringen. Mit der Filmkarriere wird es auch nichts. Zwar sollte die Garnett die Titelrolle in der CCC-Erotikbuch-Verfilmung (1964) übernehmen, aber auch dort wird sie im letzten Moment gegen die bekanntere Letitia Roman ausgetauscht, so dass Cara Garnett nur der Part einer der weiteren ‚Gesellschaftsdamen’ bleibt."

 

    So,  jetzt sehe ich natürlich obigen ‚Stolz’ in etwas anderem Licht. Selbstverständlich war mir klar, dass eine so schöne, weit gereiste,  junge Frau hinreichend viele Affären gehabt haben musste. Aber dass sie tatsächlich mit Lex Barker bereits früher enger befreundet war, wusste ich nicht. Ob es dem Regisseur, den sie von meiner Wohnung aus anrief, bekannt war, weiß ich nicht. Cara schrieb mir noch zu Weihnachten eine Karte aus den USA, teilte mir ihre Anschrift mit mit der Bitte, sie in California doch mal zu besuchen (was ich nie schaffte), dann verlor sie für immer aus den Augen.

                Ein Photo von Bruno Bernard

 

 

14.                                       Vornehm geht die Welt zugrunde

 

     Ich las einmal eine Geschichte aus den USA, in der ein Bauernjunge seine vornehme Freundin aus der Stadt das erste Mal zu seinen Eltern auf den Bauernhof mitbringt. Die Mutter zeigt ihre Abneigung recht offen, weil sie sich nicht vorstellen kann, wie diese junge Dame auf ihrem Bauernhof leben könnte.

     Dann muss die Freundin zur Toilette. Hier muss erwähnt werden, dass es sich um eine alte Toilette handelte, wo man den Harnstrahl mächtig plätschern hörte. Die junge Dame erkennt die für sie peinliche Situation und dreht den Wasserhahn des Waschbeckens weit auf, um ihre Geräusche zu übertönen.

      Als die Mutter das Geräusch des plätschernden Wassers hört, sagt sie zu ihrem Mann: „Eigentlich mag ich sie nicht besonders. Aber eins muss ich ihr lassen: Sie pisst wie ein Pferd.“ Damit war die Freundin wohl angenommen.

      Oben erwähnte ich meine Freundin Cara von den Fidschi-Inseln, die kurzzeitig bei mir wohnte. Ich hatte in der Altbauwohnung ebenfalls noch eine Toilette aus dem 20er Jahren, bei der das Wasserlassen mächtig plätscherte. Gut erzogen wie Cara war drehte sie wie selbstverständlich vorher den Wasserhahn der Badewanne auf, obwohl ich sie nicht zu meinen Eltern auf den Bauernhof holen wollte.  

 

15.                                    Wie peinlich!

 

     Als Absolvent des Mathematikstudiums an der TU-Berlin habe ich an der Technischen Fachhochschule Berlin Mathematik gelehrt. Man mag es nicht glauben und mich für völlig unfähig halten, aber oft genug hab ich bei einem Bruch die Begriffe „Zähler“ und „Nenner“ verwechselt. Anfangs waren die Studenten fassungslos und haben mich verbessert. Als mir dieser Fehler jedoch öfter unterlief, da haben sie nur noch müde gelächelt, sie wussten ja, was gemeint war. Als wir dann in ein neues Semester starteten, da haben mir die Studenten den abgebilden, selbst hergestellten Anstecker in die 1. Vorlesung mitgebracht. Man beachte, dass die Anstecknadel auf der hier nicht gezeigten Rückseite oben sitzt, damit ich mir den Anhänger nicht falsch herum anheften kann.

 

16.                                                              Na, endlich!

 

      Heute Morgen bei LIDL reiche ich der Kassiererin meinen 10-Euro-Schein für eine Rechnung von 8,78 €. Sie fragt: „Kein Rot?“ Ich antworte: „Ja, richtig.“  -- Hurrah, es ist endlich geschafft!

      Ich will das erläutern. Seit Jahren ärgern mich die 1- und 2-Cent-Münzen, die die Taschen und Geldbörsen verstopfen, und bei denen ich immer genau hingucken muss, welche der beiden Münzen es nun ist. Und seit Jahren kämpfe ich an den Kassen meinen schier aussichtslos erscheinenden Kampf, kein Wechselgeld dieser Art mitzunehmen. „Das dürfen wir nicht machen/annehmen!“, „Nein, Sie müssen das mitnehmen.“ Und was dergleichen Bemerkungen der Kassenwarte waren. Dann habe ich es versucht mit: „Den Cent für den nächsten Kunden, der keinen hat.“ Das hat oft ein kleines Lächeln erzeugt und hat auch hin und wieder funktioniert. Auch der Satz: „Bitte kein Rotgeld!“ kam oft gut an und half, die Münzen nicht entgegen nehmen zu müssen. Manchmal habe ich auch bei strikter Annahmeverweigerung das Geld einfach liegen gelassen, trotz aller Schimpferei, die mich daraufhin verfolgte. Und jetzt sehen so langsam viele Kassiererinnen und Kassierer ein, wie lästig auch für sie diese kleinen Münzen sind, und sie behalten die abgelehnten roten Geldstücke. Und heute Morgen – wie erwähnt – kam endlich die richtige knappe Frage: „Kein Rot?“ Na endlich. Ich habe es geschafft.

 

 

17.                                                             Aufnahmeprüfung

 

  1952 wohnte ich mit fünf anderen Schülern in Wenningstedt auf Sylt in einem kleinen Wohnheim. Neben unserem Heim, ein ganz normales Wohnhaus mitten im Ort, lag eine Drogerie, ein kleiner Laden, dessen Inhaber um fast jeden Preis so auf Umsatz versessen war, dass er uns Jungen nahezu alles an Chemikalien besorgte, was wir eigentlich nicht haben durften. So bastelte ich wieder ein wenig mit Sprengstoffen, diesmal mit Schwarzpulver, aber es bot sich nicht viel Neues an Erfahrung, so dass ich mich bald anderen Experimenten zuwandte. In einer Illustrierten hatten wir ein Bild gesehen, auf dem ein junger Mann einen ausgedehnten Feuerball erzeugt, indem er eine brennbare Flüssigkeit in eine offene Kerzenflamme bläst. Es handelte sich hier eine Mutprobe, die an irgendeiner amerikanischen Universität von den so genannten „Freshmen“ als Aufnahmeprüfung bestanden werden musste. Das hielt ich für eine gute Idee für Neulinge in unserem kleinen Wohnheim. Wir suchten also einen gerade frisch eingezogenen, ziemlich naiven Schüler aus und erklärten ihm, dass auch er diese Aufnahmeprüfung machen müsse, die wir alle hinter uns gebracht hätten.  Sie bestehe darin, einen kleinen Schluck Benzin gegen eine brennende Kerze zu pusten, um so einen schönen Feuerball zu erzeugen. Wir hatten schon eine Weile mit Leichtbenzin aus der Drogerie herumexperimentiert. Einige von uns haben sich damit in eine Kurznarkose versetzen können, und wir wussten, dass diese Flüssigkeit äußerst leicht entzündlich war.

 Nun war ich ein durchaus verantwortungsvoller Schüler. Obgleich keiner von uns dieses Feuerspucken je mit eigenen Augen gesehen, geschweige denn selbst ausprobiert hatte, wollte ich keineswegs, dass unser etwas einfältiges Opfer dabei zu Schaden komme oder sich auch nur verbrenne.  Also setzten wir dem Jungen eine einigermaßen dichte Mütze auf, cremten ihm das Gesicht dick mit Nivea-Creme ein, und ich schärfte dem Knaben ein, dass es immens wichtig sei, dass er – wenn der Feuerball sich plötzlich vor seinem Gesicht entfache – keinesfalls vor Schreck aufhören soll zu pusten.  Ganz im Gegenteil: er solle so lange weiterpusten, bis alles Benzin aus seinem Mund heraus sei. Dann stürbe das Feuer von selbst. Jedenfalls hatte ich mir das technisch in Gedanken so zurechtgelegt.

      Also nahm der naive Junge einen kleinen Schluck aus der Flasche mit dem Leichtbenzin, die ich sogleich wieder sorgfältig verschloss, und prustete das Benzin-Luftgemisch gegen die brennende Kerze. All unsere Herzen blieben stehen – die Kerze erlosch. Die Kerze wieder angezündet, wieder ein kleiner Schluck, ein kräftiges Pusten – die Flamme erlosch abermals.  Beim dritten Versuch klappte es.       

Es entfachte sich vor dem Jungen ein riesengroßer, rotgelb lodernder Feuerball, und nicht nur wir, sondern vor allem unser Neuling war so erschrocken, dass er beim Auflodern der Flamme sofort aufhörte zu pusten. Die Flamme kam kurzfristig bis an sein Gesicht heran und versengte ihm die Augenbrauen und Wimpern bis auf die Haarwurzeln. Obendrein verbrannte er sich trotz der Creme sein Gesicht ein wenig. Aber wir alle zeigten ihm, wie stolz wir auf ihn waren. Und er war daraufhin auch mächtig stolz auf sich. Nur als wir ihm erzählten, dass er der erste gewesen war, der diese Mutprobe gemacht hat, war er gewaltig sauer auf uns.

 

 

18.                                                            Freundschaften am Strand

 

     Bernhard und ich sind Rettungsschwimmer am Hauptstrand in Wenningstedt auf Sylt. Einer von uns muss wegen des Nottelefons stets im oder am Wagen bleiben. Der andere hat ein paar Freiheiten, soweit es der Badebetrieb zulässt.

       Ohne mein Wissen verabredet sich Bernhard vormittags am Strand mit einem Mädchen zum Abend auf unserer kleinen Promenade. Als das Mädchen  mittags  Bernhard  zulächelnd  am Schwimmerwagen vorbei-geht, erzählt er mir davon. Ich sehe mir das Mädchen an. Es ge­fällt mir ausgesprochen gut, und ich könnte sie mir durch­aus als meine Freun­din vorstellen.  Ich frage Bernhard, ob er etwas dagegen habe, dass auch ich versuche, mich mit diesem Mäd­chen zum Abend zu verabreden. Nein, das sei O.K., wollen doch mal sehen, wie sie sich verhält. Experimente interessieren ihn.

 

Rettungsschwimmerwagen am Wenningster Strand

in der Nachsaison bei Niedrigwasser und ruhiger See

    So gehe ich am Nachmittag zu ihr in die Sandburg rede eine Weile mit ihr und fra­ge sie letztlich, ob sie nicht Lust habe, mit mir am Abend et­was zu unternehmen. Sie sagt ja, und wir vereinbaren, uns auf der Promenade zu treffen. Ich merke, dass ihr die Promenade als Treffpunkt nicht ganz recht ist, tue aber so, als ob ich das nicht spüre.

 

Ich berichte Bernhard von dem Gespräch. Bernhard und ich beschließen, dieses Verhalten des Mädchens, ein Rendezvous mit einem Mann für einen anderen, der ihr besser gefällt, einfach sausen zu lassen, zu bestrafen.

 Als die vereinbarte Treffzeit herangekommen ist, geht Bernhard zu unserem auf der Promenade wartenden Mädchen und will mit ihr losziehen. Sie windet sich wie ein Aal und fragt Bernhard: „Habe ich nicht (zu unserem Treffen) 'vielleicht' gesagt?“ Bernhard sagt: „O.K., wenn Du nicht willst, dann ist es auch gut.“ Und er lässt sie stehen. Er kommt zu mir, der ich insgeheim das Treffen beobachtet habe und berichtet mir, was sie gesagt hat. Nun schlendere ich zu ihr. Sie freut sich, mich zu sehen, aber ich tue so, als ob ich gar nicht mit ihr verabredet wäre.  Auf ihre Erinnerungen an unsere Ge­spräch am Nachmittag in der Burg antworte ich nur: „Habe ich nicht 'vielleicht' ge­sagt?“ Ich sehe mir noch das verblüffte Gesicht an, dann drehe mich um, und gehe.

     Ich muss gestehen, dass ich ein wenig später mich doch mit Anke angefreundet habe. Eine zauberhafte Studentin, die in irgendeinem Hotel in Ihren Semesterferien jobbte.  Sie war eines der wenigen Urlauber-freundinnen, die bei meinen Annäherungsversuchen ganz standhaft blieb. Sich einem dieser verrufenen Bademeister so einfach hinzugeben, war nicht ihr Ding. Dennoch verlebten wir wunderschöne Stunden miteinander.

 

19.                                            Und nun es ist tatsächlich geschehen

 

   Hatte ich noch vor 5 Jahren damit geunkt, dass nach der Hilfe, die mir ein etwa Vierzigjähriger beim Aufsammeln von heruntergefallenen Münzen bot, ich eigentlich nur darauf warte, dass demnächst ein Vierzigjähriger im Bus mir seinen Platz anbietet.  Nun ist dies tatsächlich bei einer Bus-Fahrt im TXL-Bus zur Charité geschehen. Es was allerdings kein Mann, sondern – was ja noch beschämender ist – eine junge Dame, die mir helfen wollte. Ich konnte mich hinterher nur damit trösten, dass ich bei meinem bevorstehenden Besuch der Charité vielleicht etwas leidend ausgesehen habe.

 

 

20.                    Ein neuer  Freund

 

     So allein ohne Ehefrau und Mutter beschließen mein Sohn Lars und ich, am 2. Weihnachtsfeiertag 1979 mit dem Wagen nach Sylt zu fahren, um das Jahresende bei meinem Freund Jens Jacobsen, dem ehemaligen Rettungsschwimmer und HNO-Arzt („Jens Mandelklau“) und seiner Frau Petra zu verbringen. Es ist kalt auf Sylt, und es fängt an zu schneien, und es schneit und schneit. Zunächst ist das noch eine Freude für alle, zuletzt nur noch für die Kinder. Dabei weht ein heftiger Ostwind. Bei irgendeiner Gelegenheit stehe ich in Westerland an einer Kreuzung an der Straße nach Keitum inmitten der Schneewehen und versuche, den Verkehr zu regeln, aus Mitleid mit den Autofahrern. Bald bin ich durchgefroren, ich trage nur Halbschuhe, und Schneefall und Wind nehmen zu. Nach einer halben Stunde gebe ich auf. Die Autofahrer benehmen sich zu unvernünftig, jeder denkt nur an sich; am Ende kann man kaum noch fahren.

    Im Kreis Nordfriesland sind weit über 50 Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten, und für den gesamten Kreis Schleswig Flensburg wird ein Fahrverbot erlassen. Bald ist unsere Insel vom Festland getrennt, kein Zug fährt, und die Fähre nach Dänemark stellt auch ihren Verkehr ein. Am Ende muss in Schleswig-Holstein Katastrophenalarm ausgerufen. werden.

 

    Ich habe ein Problem: Die Vorlesungen an meiner Hochschule beginnen pünktlich am Dienstag, dem 2. Januar, und ich sitze noch hier auf Sylt und kann nicht weg. Ich rufe in Berlin an, um mich zu entschuldigen und erkläre unserer Fachbereichssekretärin die Lage. Ich käme, sobald Sylt wieder eine Verbindung mit dem Festland habe. Mit Erstaunen höre ich, dass Prof. Siegel auch auf Sylt sei und sich ebenfalls telefonisch entschuldigt habe. Ich kenne Siegel nur vom Sehen und weiß nicht, wo er hier auf Sylt steckt und wie ich ihn erreichen kann. Ich möchte meine Zwangslage gerne ausnutzen und noch einige Tage auf Sylt bleiben und nicht unbedingt die erste Gelegenheit – sei es nun die Bahn oder die Fähre – nutzen, um nach Berlin zurückzukehren. Ein paar Tage mehr Urlaub als nötig wären schon ganz schön. Nur weiß ich nicht, was Siegel macht. Wenn der nun ein ganz Eifriger ist und den ersten Zug oder die erste Fähre benutzt, dann stehe ich dumm da. Ich wage einen – wie ich meine – fairen Kompromiss: Zwei Tage länger auf Sylt als nötig.

 

     Zurück in Berlin stellt sich heraus, dass Prof. Siegel bezüglich seiner Rückkehr nach Berlin dieselben Überlegungen angestellt hatte wie ich. Auch er wollte noch ein paar Tage Urlaub genießen und wusste nicht, wie ich mich verhalte, und er hat dann letztlich auch die Zwei-Tage-Wahl getroffen. Sobald wir uns in Berlin in der Hochschule begegnen, sprechen wir über unseren gemeinsamen Sylt-Aufenthalt und lachen herzlich über unsere gleichen Gedanken und Handlungsweisen. Es ist der Beginn einer engen Freundschaft, die bis auf den heutigen Tag währt.